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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

verfasserin/verfasser: Iachen Ulrich Könz, Eduard Widmer

titel: Sgraffito im Engadin und Bergell

isbn: 3 7611 0524 X

+: Zürich 1977

«Nach dem 14. Jahrhundert erreichte die Mode des Sgraffitos besonders in Florenz einen Höhepunkt, um dann im 17. Jahrhundert ganz plötzlich zu verschwinden. Von Florenz und Rom breitete sich die Sgraffito-Technik über ganz Italien aus, vor allem im Norden, und wurde besonders für herrschaftliche Bauten verwendet. In ganz Europa hat man diese Technik dann aufgenommen. […] Über den Brennerpass drang die Sgraffito-Technik nach Österreich und von da bis Böhmen und Mähren und weiter nach Norden bis nach Schlesien vor, wo sie als Volkskunst bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist. In den bündnerischen Talschaften hat die Sgraffito-Technik seit dem 16. Jahrhundert Eingang gefunden, zunächst dort, wo der Kontakt mit dem Süden vorhanden war […].

Mit dem Aufkommen des Barockstils wurde diese weit verbreitete, vielfältige Art der Hausdekoration fast überall verrnachlässigt, und manche Werke wurden sogar wissentlich zerstört.» (S. 9—10)

«Engadin und Bergell gehören zu den wenigen Regionen, in denen sich das Bauernhaus zu einer architektonischen Kunstform entwickelt hat. Dies geht so weit, dass sich seit dem 16. Jahrhundert auch die Herrenhäuser der Form der Bauernhäuser angleichen. […] Unter dem Einfluss aus Italien wurde das heterogene Gebilde des Engadinerhauses in einer Art dekoriert, die im Ursprungslande des Sgraffitos dem herrschaftlichen 'Palazzo' mit seiner klassischen, symmetrischen Fassade vorbehalten war: Auch dort wurde mit Geschossbändern und mit jeweils den Fensterachsen zugeordneten Feldern gegliedert. Im Engadin übertrug man diese Dekorationsart aber auf eine Architektur, die für eine strenge Ordnung keinen Raum bot. Dieser Unterschied mag einer der Gründe dafür sein, dass das Engadin eine eigene Dekorationsweise entwickelte, die zwar Dekorationsbänder, Architekturglieder und Ornamente aus ihren Vorbildern übernahm, sie aber frei anwendete.

Das Engadinerhaus wirkt durch seine Grösse, die Mauerflächen, die Trichterfenster und seine Ursprünglichkeit. Es hat dadurch auch den modernen Menschen angesprochen, und man vergleicht etwa Le Corbusiers Kirche von Ronchamp damit. Die Massen mögen manchmal schwerfällig dastehen, die Sgraffito-Dekoration überzieht und verändert aber in unmerklicher Weise solche Gefüge, ohne in die plastische Wirkung der Architektur einzugreifen und ohne die Flächen zu zerstören. […]» (S. 40—41)

«Als Renaissance-Ornamente bezeichnen wir vor allem die Nachbildungen von Architekturelementen wie Eckquadern, Gesimsen, Profilen, Säulen und Fensterverdachungen, welche aus ursprünglich plastischen Formen durch die Umsetzung in die Sgraffito-Technik zu rein dekorativ-flächigen Zeichnungen wurden. Neben Architekturelementen brachten die Italiener Schablonen von Friesen mit Engeln, Drachen, Delphinen und Ranken mit. Diese Schablonenmotive erscheinen an verschiedenen Häusern und in einigen Dörfern und lassen die Wanderschaft der Künstler nachweisen. Sie wurden sehr wahrscheinlich bald von Einheimischen frei kopiert, wobei originelle Gebilde entstanden. Alte Zeichen und Symbole, das Sonnenrad, Rosetten und Hauszeichen, auch pflanzliche Elemente wie Blumensträusse in den Fensternischen etc. wurden unter die klassischen Formen vermischt […]. Motive aus der Stickerei und der Möbel-Intarsie kamen dazu […].» (S. 51—52)