www.mural.ch: literatur

dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

verfasserin/verfasser: Nott Caviezel

titel: Guarda

isbn: 3-85782-372-0

+: Kunstführer der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte Bern, Serie 38, Nr. 372/373, 2. Auflage 1993

«Eine erste Besonderheit der einheimischen Architekturdekoration liegt in der Sgraffito-Technik, eine zweite in ihrer stilistischen, ornamentalen und ikonographischen Ausformung. Das Sgraffito ('graffiare' = ital. kratzen, auskratzen) bildete sich zur Zeit der Hoch- und Spätrenaissance in Mittelitalien aus. Von Rom und Florenz breitete sich diese künstlerische Technik nach Oberitalien aus und fand entlang der grossen Transitstrassen einen Weg bis nach Niederösterreich und Böhmen. Im Ursprungsland war das Sgraffito vorwiegend der Verzierung herrschaftlicher Palazzi vorbehalten und dementsprechend auch von profanen Inhalten geprägt. Im Engadin erlebte die Sgraffito-Technik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Blüte und hielt sich mit Schwankungen bis heute, wo im Zuge der Restaurierungen und Neubauten mehrere Spezialisten sich wieder ganz dem Sgraffito verschrieben haben.

Das Prinzip der Sgraffito-Technik ist einfach: Die Mauer erhält einen grauen Grundputz; auf diesen wird in mehreren Schichten ein weisser Kalkanstrich aufgetragen, aus dem, während er noch feucht ist, mit Kratzen, Ritzen und Schaben die Motive bis auf den dunklen Grundputz freigelegt werden. Diese ausgesprochen graphische, linien- und flächenbetonte Technik konnte durch zusätzliches Einfärben der Putzschichten bereichert und sogar mit gemalten Fassadendekorationen kombiniert werden. Das Engadin hat jedoch mehrheitlich die einfache Technik bevorzugt.

Verziert sind vorwiegend Tore, Fenster, Hausgiebel und -ecken, und nicht selten wurden sogar die Wirtschaftsgebäude in die ornamentale Gestaltung miteinbezogen. Es fällt auf, dass die Sgraffito-Verzierungen sich inn sehr freier Art den individuellen Gegebenheiten der gemauerten Bauten anpassen. Das Sgraffito wirkt ornamental, es folgt den einzelnen Baugliedern und übergeht die eigentliche Tektonik der Häuser fast ganz.

Die freie Verwendung der Technik, ihre Herkunft und ihre hohe Blüte in der Renaissancezeit hatten einen grossen Einfluss auf den relativ beschränkten Formenschatz des Engadiner Sgraffitos. In immer neuen Variationen verbinden sich aus der Architektur stammende Motive mit ornamentalen Mustern, Schrifttafeln und selteneren figürlichen Darstellungen. Dreieckgiebel, Zinnen, Wellen- und Rankenbänder, verschiedene Quaderungen, Rosetten und Blumen gehören zu den traditionellen und weitverbreiteten Sgraffito-Motiven des Engadins und entstammen vorwiedend den künstlerischen Vorstellungen der Renaissance.

Die aus dem benachbarten Tirol eingeströmten barocken Formen haben im Unterengadin nur beschränkt und fast ausschliesslich in der gemalten Dekoration der Häuser Anklang gefunden.[…]» (S. 15—16)