Die traditionelle Schule. Die religiöse Malerei. Andere Wandbilder, in: Antonio Rodríguez, Der Mensch in Flammen, 1967, S. 216 (dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch)
eingetragen von Alex Winiger am 12.03.2017, 20:58 (email senden)
geändert von Alex Winiger am 12.03.2017, 21:50 (email senden)
«1958 erhielt Camarena den Auftrag, im Senatsgebäude eine Ehrung für Belisario Domínguez zu malen, den bürglerichen Helden, der sich dem Tyrannen Huerta entgegenstellt und den Senat in eine Tribüne des Kampfes verwandelte. Der Märtyrer – er verlor in diesem Kampfe das Leben – beherrscht das gesamte Werk. Aber nicht das Anekdotische wird beschrieben, er wird zum Symbol des Freiheitskampfes überhaupt. Mit der einen Hand umfasst er wie Prometheus Licht- und Strahlenbüschel, mit der anderen bietet er das, was ein Herausforderer der Tyrannen als Heiligstes geben kann: das entlarvende Wort. Es ist unwichtig, dass die Lanzen und Dolche, die um Belisario Domínguez eine seltsame Strahlenkrone bilden, ihn getötet haben. Dieser Mann steht in der Geschichte und in der Erinnerung der Mexikaner aufrecht wie die Schwerter, die sich auf dem Bild neben ihm emporrichten. […]
Alles, was auf dieser Wand dargestellt wird, ist haltlos und wanderbar. Alles ist Schein und eitler Tand. Darum ist hier auch alles geneigt, wie ein einfallendes Gebäude. Und deshalb ist die schräge Linie die Dominante der Komposition. Aber gleichzeitig, da die Masken der Despoten und Verräter herabstürzen, richten sich als Symbot und als Mittel der Komposition – damit das Wandbild nicht mit dem Thema fällt – die Lanzen der ewigen Sehnsucht nach Gerechtigkeit in die Höhe. […]
Dieses Wandgemälde, das Das Vergängliche und das Ewige im Leben einer grossen Nation benannt werden könnte, gipfelt an der Dekce in deiner schönen Allegorie Mexikos. Orozco drückte in Jiquilpan mit jener Empfindsamkeit für das Dramatische, die sein ganzes Werk charakterisiert, den Konflikt feintlicher Kräfte im Kampfe zwischen Adler und Schlange aus. In Camarenas neuer Allegorie des Mexikanertums wird der Adler den von allen ersehnten Sieg davontragen. Das mit dem Adler kämpfende Ungeheuer ist durch die scharfen Krallen des Vogels und durch Stahlspitzen verwundet. Doch ist es noch nicht tot. Es besitzt noch Kräfte, den Kampf fortzusetzen, und der Zeitpunkt seiner Niederlage bleibt ungewiss.
Von der Anschauung des mexikanischen Indios aus, der in der Schalnge das Symbol Quetzalcoatls verehrt, ist es für Camarena ein Erfolg gewesen, das Reptil durch den schon in der Vergangenheit die finstersten Kräfte der Erde vertretenden Jaguar zu ersetzen. In der Allegorie Orozcos bleibt der Konflikt ein abstraktes Ereignis, es ist ein Kampf an sich. Auf dem Wandbild von Camarena nähert sich das Symbol mehr dem konkreten Leben. […]»