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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

verfasserin/verfasser: Otto Mittler

titel: Johannes Müller von Baden : 1535–1604

+: Badener Neujahrsblätter 39 (1964), S. 54–58

«1576 wollte ihn der Rat von Baden zur Übernahme der Pfarrstelle seiner Vaterstadt bewegen. Müller lehnte ab und ließ sich schon im folgenden Jahre zum Leutpriester der Hofkirche Luzern wählen.

Hier erwarb sich Johannes Müller die größten Verdienste um die Reform des Weltklerus und der kirchlichen Ordnung. Berühmt wurde seine Abrechnung mit dem Geisterglauben in der Pilatussage, nach der die Leichen des Landpflegers Pilatus und seiner Frau einst in einen kleinen Alpsee des Frakmont gebannt worden seien und hier verheerende Unwetter erzeugten, sobald sie herausgefordert würden. Der Luzerner Rat hatte deshalb die Besteigung des gefürchteten Berges unter Strafe gesetzt und schon 1387 sechs Geistliche wegen Übertretung des Verbotes eingesperrt. Alle Maßnahmen der Luzerner konnten aber nicht verhindern, daß das Interesse an dem unheimlich zackichten Geisterberge ständig wuchs und bedeutende Gelehrte ihn zu einer Zeit bestiegen, da man das Bergsteigen überhaupt als Vermessenheit betrachtete. An bekanntesten Besuchern seien nur genannt 1422 der Zürcher Chorherr Felix Hemmerlin, 1518 der St. Galler Naturforscher und Reformator Vadian, 1520 der Herzog von Württemberg und 1555 der Zürcher Arzt Konrad Gessner, der als einer der ersten Alpinisten eine einläßliche Beschreibung des Berges verfaßt hat. Er schildert darin auch den Pilatussee, der mehr einem Sumpf und Tümpel gleiche. Die Ansicht der Einwohner, daß der Geist des Landpflegers hier bedrohlich weiterlebe, vermochte Gessner nicht zu glauben, eben so wenig, daß Pilatus jemals in diese Gegend gebracht worden sei. Für die vom Berge niederstürzenden Gewässer findet er durchaus natürliche Erklärungen. Er gibt auch keinem Dämon die Schuld, wenn bei Zürich die Sihl tobend über die Ufer bricht; ebenso wenig wittern die Basler einen bösen Geist, wenn die überbordende Birs die Stadt bedroht.

Sehr wahrscheinlich hat der Leutpriester Müller durch den ihm befreundeten, gelehrten Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat die Schilderung Gessners gekannt, als er 1586 im Einverständnis mit dem Stadtrat beschloß, allem Volk den Unsinn des Geisterspuks auf dem Pilatusberg drastisch vor Augen zu führen. Mit großer Begleitung begab er sich an den See, ließ Steine hineinwerfen und dem Geiste rufen. Aber das Wasser blieb ruhig, und als ein Stadtknecht auf Geheiß des Leutpriesters durch den Sumpf watete, entstand kein Ungewitter. 1594 endlich beschloß der Luzerner Rat, «disen sew oder güllen uszugraben», zu entleeren und die Besteigung des Berges ungehindert zu gestatten, da die Geschichte vom Pilatusgeist doch nichts anderes als Superstition und Aberglauben sei.» (S. 55–56)