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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

künstler: Erich Heckel

titel: Die Lebensstufen (Die Stufen des Daseins): Die Welt des Mannes und die Trennung. Die Welt der Frau und die Verbindung

jahr: 1922–24

adresse: Angermuseum («Kapelle»), Erfurt, Deutschland

+: Wandgemälde, Seccomalerei. 120 m2

«In Erfurt und Krefeld ergriffen nach Ende des Ersten Weltkrieges die miteinander befreundeten Museumsdirektoren Walter Kaesbach (1879–1961) und Max Creutz (1876–1932) als Erste die Initiative, das 'schöpferische Museum' in die Realität um­ zusetzen, indem sie 1922/1923 die Künstler Erich Heckel und Johan Thorn Prikker mit Wandmalereien beauftragten. Walter Kaesbach war 1920 Edwin Redslob auf den Direktorenposten des Städti­schen Museums in Erfurt gefolgt. Redslob hatte das Profil der Sammlung bereits ge­schärft, indem er neben dem bislang vorherrschenden Heimatcharakter einen neuen Schwerpunkt auf die deutsche Malerei des 18. bis 20. Jahrhunderts gelegt und den Ausbau der grafischen Sammlung betont hatte. Kaesbach ging darüber noch hin­aus, indem er aktuelle Kunst und Künstler einbezog, wodurch sich das Museum zu einem der progressivsten deutschen Kunstmuseen der Zeit entwickeln sollte. In der Erdgeschosshalle ließ er die Einbauten des 19. Jahrhunderts entfernen und richtete hier die Ausstellung mittelalterlicher Kunst ein, mehrheitlich mit Exponaten aus Er­furt und Thüringen. In unmittelbarer Nachbarschaft entstanden vor allem in den Jahren 1922 und 1923 Heckels umfassende Secco-Malereien in einem kleinen geschlos­senen Nebenraum mit einer Wandfläche von ca. 120 m2 bei einer Grundfläche von ca. 28 m2. […] Wohl aufgrund seiner fast intimen Größe, dem Deckengewölbe so­ wie der sich über alle Wandflächen ausbreitenden Bemalung wurde der Raum häufig als Sakralraum oder Kapelle bezeichnet.» (Schuler 2017, S. 281–282)

Erich Heckels Zyklus Die Stufen des Daseins entstand im Städtischen Museum in Erfurt auf Initiative des jungen Direktors Walter Kaesbach. Kaesbach war selbst Kunstsammler, ein entschiedener Verfechter der Moderne, was ihm fast den Amts­antritt in Erfurt vereitelt hätte, und unterhielt nicht nur mit Hecke, sondern mit vielen der jungen zeitgenössischen Künstler eine intensive Freundschaft. Bevor er seine Stellung als Museumsdirektor in Erfurt begonnen hatte, war er mehr als zehn Jahre an der Nationalgalerie in Berlin tätig und unterstützte dort Ludwig Justi zuletzt bei der Einrichtung der Galerie der Lebenden als dessen Assistent. Seine engen Kontakte zu zeitgenössischen Künstlern nutzte Kaesbach nicht nur für den Auftrag an Erich Heckel, auf seine Anregung hin entstanden auch Lyonel Feiningers Werkgruppe zur Regler- und Barfüßerkirche (1924 und 1926) und Christian Rohlfs Variationen seiner Dom-Severi-Gruppe (1924). In seiner Funktion als Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie veranlasste er später die Umgestaltung der Aula nach modernen raumgestalterischen Methoden. Den Anfang hatte er aber mit dem Auftrag an Erich Heckel im Jahr 1921 gemacht, den dieser dann vor allem in den Jahren 1922–1924 umsetzte. Kaesbach wusste, dass sich Heckel schon lange ge­wünscht hatte, 'einen Raum ausmalen zu dürfen' und konnte sich so seiner Zusage relativ sicher sein. Die Finanzierung ermöglichte der Schuhfabrikant Alfred Hess (1879–1931), der sich in Erfurt vielfältig für das Museum und die Förderung zeitge­nössischer Kunst und Künstler einsetzte.

Nach der Neuordnung der mittelalterlichen Ausstellung in der Erdgeschosshalle wurde diese sog. Große Halle, durch die man zu dem von Heckel ausgestalteten Raum gelangt, im Juni 1922 wieder eröffnet; 1924 erschien der erste Teil eines projektierten Gesamtkataloges des Städtischen Museums zur mittelalterlichen Sammlung und der Gemäldegalerie, in dem dem Heckel-Raum ein eigenes Kapitel mit einem Auszug aus Sauerlandts Aufsatz zu diesem Projekt gewidmet ist.m Sauerlandt sah Heckels Wandgemälde 'in einer Reihe neben den Nazarenerfresken Cornelius', Schnorr von Carolsfelds und Philipp Veits und den Fresken von Hans von Marées [sic!] in der Biblio­thek des Aquariums in der Villa Nazionale in Neapel' und den Künstler selbst – im Vergleich mit dessen Künstlerkollegen Kirchner, Schmidt-Rottluff und Otto Mueller ­– als den am besten geeigneten Zeitgenossen für diese Aufgabe. Kaesbach war es mit diesem Auftrag gleichsam gelungen, die Forderung seines Kol­legen Max Sauerlandt vom 'schöpferischen Museum' umzusetzen.

Erich Heckel hatte bei der Themenwahl offenbar freie Hand gehabt; Kaesbach hatte ihm keine Vorgabe gemacht und sicherte ihm zu, dass der Raum ausschließlich den Wandmalereien vorbehalten bliebe. Heckel entschied sich für die Stufen des Daseins, die von Sauerlandt schließlich Lebensstufen getauft wurden und vor allem unter diesem Titel in die Kunstgeschichtsschreibung eingingen. Er setzte das Thema in einem vielfigurigen und alle Wandflächen bedeckenden Zyklus in spätex­pressionistischer Formensprache um. Lucke und Hüneke haben das Bildprogramm 1992 detailliert entschlüsselt und konnten vielschichtige inhaltliche Bezüge und ein gedanklich konsequent realisiertes Konzept identifizieren: Heckel griff nicht auf einen tradierten Stoff wie die Edda-Dichtung oder einen feststehenden Kanon wie die vor allem um die Jahrhundertwende populären Lebensalter-Darstellungen zurück. Er kreierte vielmehr einen zeitgenössisch-persönlich konnotierten Kos­mos, der nur teilweise mit Elementen der Lebensalter-Ikonografie, wie beispiels­weise der Darstellung des Alterns durch Personen verschiedener Generationen, gelesen werden kann.

Heckel band seine Künstlerkollegen Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller und die Bildhauer Alexander Zschokke und Hans Walther durch Porträts in seine Darstel­lung ebenso ein wie den verehrten Dichter Stefan George (1868–1933) als zentrale Hauptfigur im oftmals als Hauptbild bezeichneten Teil der Welt des Mannes und Mitglieder des Berliner George-Kreises oder seine Frau Siddi Heckel als dem Dich­ter gegenüberstehende dominante Figur. […] Die Porträts dienen ihm als Ausgangspunkt für allgemeingültige Typendarstellungen: So bildete Siddi Heckel als 'die Große Mutter, Ursprung und Nährerin allen Lebens', die in der Natur am Strom des Lebens gezeigt wird, gleichsam ein Gegenbild zu der durch George mit dem jungen Maximilian Kronberger (1888–1904) verkörperten geistigen Welt des Ge­orge-Kreises. Stefan George und Siddi Heckel sind zwar individuell identifizierbar, können aber auch stellvertretend für 'die Frau' und 'den Mann' gelesen werden. Bei den anderen dem Dichter zugeordneten männlichen Gestalten handelt es sich neben Ernst Morwitz (1887–1971), der Heckel mit dem George-Kreis bekannt gemacht hatte, um mit Heckel befreundete Mitarbeiter der Berliner Museen, die Stefan George eben­falls nahestanden: auf der linken Seite der Kunsthistoriker Wilhelm Stein (1886–1970) und der Philologe Josef Liegle (1893–1945), auf der rechten der Bildhauer und Kunsthistoriker Ludwig Thormaehlen (1889–1956), der seit 1914 an der Berliner Nati­onalgalerie tätig war, und sein Kollege Alois J. Schardt (1889–1955), der von 1920 bis 1924 ebenfalls dort beschäftigt war. Auf dem sich rechts anschließenden Wandfeld neben dem Fenster ist schließlich Ludwig Justi zu sehen, der dem George-Kreis nicht angehörte, sich aber als Direktor der Nationalgalerie mit der Galerie der Lebenden besonders für den Einbezug der zeitgenössischen Kunst in das Museum eingesetzt hatte. Im Fensterfeld direkt nebenan sind Initiator und Mäzen des Raumes, Walter Kaesbach und Alfred Hess, als Wappenhalter dargestellt. […] MitJusti ver­band sie einerseits Kaesbachs Assistentenzeit in Berlin, aber entscheidender noch der Einsatz für die zeitgenössische Kunst.

Heckels Wandb ildzyklus lässt also verschiedene Interpretationsebenen zu: Er kann als Kommentar zur aktuellen kulturpolitischen Situation in Deutschland, als Dar­stellung persönlicher Erinnerungen, Freundschaften und Beziehungen Heckeis, als utopische Idee einer neuen Menschengemeinschaft, wie sie im George-Kreis disku­tiert wurde, oder als allegorische Darstellung menschlicher Beziehungen in unbe­rührter Natur sowie der städtischen Umgebung Erfurts gelesen werden.

In der Ornamentik der so genannten Wappenteppiche in den Fensterfeldern und der den gesamten Raum umspannenden Sockelzone, die er als symbolgeladenen Blumenfries in Bezug zu den darüber platzierten Bildern gestaltete, nahm Heckel motivisch Bezug auf mittelalterliche Darstellungen.»

(Schuler 2017, S. 284–287)

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