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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

künstler: Ferdinand Hodler

titel: Rückzug von Marignano

jahr: 1899–1900

adresse: Schweizerisches Nationalmuseum, Landesmuseum Zürich, Museumsstrasse 2, Zürich (Waffenhalle)

+: Fresko, Tempera. Mittlere Lunette: 332,5 x 490 cm, linke Lunette: 210 x 194,5 cm, rechte Lunette: 205,5 x 194 cm.

«Der Direktor der Landesmuseums-Kommission beantragte im Jahre 1895 [das Landesmuseum Gustav Gulls wurde 1898 fertiggestellt], es solle die eidgenössische Kunstkommission eingeladen werde, einen Wettbewerb auszuschreiben, um auf diese Weise den Waffensaal mit Bildern aus der Kriegsgeschichte der Heimat zu schmücken. Der Auftrag forderte eine monumentale Malerei, die mit der kirchenartigen Architektur der Halle glücklich übereinkommen sollte. […] Den Künstlern wurde vorgeschrieben, dass ihre Entwürfe für je drei Bogennischen der Hallenstirnwände bestimmt seien, dass sie in Fresko oder Tempera zur Ausführung gelangen müssten und den Empfang der Zürcher in Bern anlässlich des Murtenerzuges von 1476 und den Rückzug der Schweizer von Marignano darzustellen hätten. […] kam der erste Preis entschieden der Arbeit Hodlers zu […]. […] Indessen löste die Ausstellung der Entwürfe, die im Helmhaus stattfand, einen unerwartet heftigen öffentlichen Widerstand aus. […] Der Museumsdirektor warf in der Neuen Zürcher Zeitung Hodler vor, dass er ein Phantast sei, gegen die geschichtliche Treue verstosse, und er schilderte den einen Entwurf des Malers mit diesen Worten: 'Von der Hauptsache, der Komposition des Hodler'schen Entwurfes, kann man sagen, dass sie durch ihre Abwesenheit glänzt. Ein Alter mit gespreizten Beinen, in einer Hand eine Fahne, in der andern eine Stangenwaffe haltend, in der Mitte; links ein vollständig roter Kerl mit einem Flamberg in der Stellung von 'Präsentiert's G'wehr'; rechts ein davontänzelnder Geck, ein Paket unter dem Arm, die Hellebarde nachlässig in der Rechten; neben ihm ein langer Kamerad, die Hellebarde an die linke Schulter gelehnt, mit der Rechten einen Rücken-Lufthieb führend; im Hintergrund links eine zusammengeklappte Jammergestalt, die von einer andern getragen wird; zuhinterst eine verworrene, dunkle Masse, welche vermutlich die abziehenden Schweizer darstellen soll.' An diese Schilderung schliesst Direktor [Heinrich] Angst die Bemerkung an, dass das Preisgericht gegen die öffentliche Meinung entschieden habe.

[…] Die Kunstkommission deckte den Entscheid des Preisgerichtes, der in einem zweiten Gutachten abermals zu Gunsten Hodlers und dessen Eigenart lautete, aber die Landesmuseums-Kommission schützte sich mit dem Urteil von Professor J[ohann] R[udolf] Rahn, das dem Werk jede innere und äussere Wahrheit absprach. […] beglückwünschte der Lehrerverein Zürichs, der hundertzwanzig Mann stark die Entwürfe besichtigt hatte, den Stadtrat zur Stellungnahme gegen Hodler und bat, die Ausführung dieser abstossenden, rohen, dem Volke und der Jugend unverständlichen Malerei zu verhindern. […] sprach der Bundesrat, von dem sich die Landesmuseums-Kommission öffentlich distanzierte, Hodler das Vertrauen aus. Im Dezember 1899 konnte der Künstler die Arbeiten endlich aufnehmen — vier Jahre hatte der Streit gedauert.» (Jaeckle, 1939)

«Der Kommentar zum Hauptbild im Katalog "Die Erfindung der Schweiz" lautet: "La figure de gauche [...] s'est tournée dans le sens de la marche, tandis que le hallebardier qui se tient à bonne distance de la fin du cortège, apparaît tel un rempart. On prend la mesure de l'importance de cette disposition en apprenant que Hodler s'est représenté lui-même dans le guerrier de gauche qui conduit la troupe d'un pas fier et déterminé. Albert Trachsel, quant à lui, a prêté ses traits au hallebardier. Le peintre a également introduit le portrait du sculpteur Rodo de Niederhäusern en homme d'armes se retournant vers l'ennemi une hache à la main. L'artiste double ainsi l'événement historique d'un sens contemporain qui transforme la retraite de Marignan en victoire de l'art suisse. Rien d'étonnant à ce que Trachsel occupe une place aussi importante dans la représentation: par ses écrits, il s'était affirmé comme le principal défenseur de Hodler face à l'incompréhension de ses contemporains. Il avait également fait de lui le porte-drapeau de l'art national en le mettant à la tête d'une hypothétique école suisse de peinture moderne."» (Claudia Villa)

«Die Hauptsehenswürdigkeit der diesjährigen schweizerischen Kunstausstellung bildet zweifellos Hodlers Karton zur Murtenschlacht, die als Gegenstück zum Rückzug von Mangnano die große Halle im Landesmuseum ausschmücken soll. Auf der einen Seite die Schlacht, die der Schweiz den Weg zur europäischen Großmacht zu bahnen schien, auf der andern Seite die Niederlage, die den flüchtigen Großmachtstraum ruhmvoll für immer begraben hat. Beides die höchstragenden Meilensteine auf dem Weg, den die Geschichte unseres Landes ging, und als solche von einer viel größeren ideellen Bedeutung, als dem historischen Ereignis an sich betrachtet eigentlich zukommt. Als solche typische Vorgänge sind die beiden Vorwürfe auch von Hodler angepackt und dargestellt worden. Es sind keine Schlachtenbilder im geläufigen Sinne, keine Illustrationen für ein Geschichtsbuch, sondern eine sinnfällige Verkörperung der beiden Begriffe von Sieg und Rückzug. […] Wie auf einem antiken Relief wird das Geschehen auf wenige Figuren konzentriert, und wenn Hodler diesen Figuren das historische Kostüm anzog, so tat er es wohl umso lieber, weil dieses in seiner reichen Farbigkeit und seiner das körperlich Formale nirgends verbergenden Schmiegsamkeit dem malerischen Bedürfnis in jeder Weise entgegenkam. […] Wir wissen nicht, ob Hodler für seine Murtenschlacht alle die Schilderungen der Chronisten und Geschichtsforscher studiert hat; es würde uns nicht wundern, aber nötig war es nicht, er bedurfte keiner frappanten Episoden um seine Phantasie anzuregen, er gestaltete die Idee der Schlacht nach seinen eigenen künstlerisch formalen Prinzipien und konnte alles übrige aus seiner gründlichen Kenntnis der Stiche und Zeichnungen seiner direktesten Vorgänger, der schweizerischen Landsknechtmaler, der Holbein, Urs Graf, Manuel, und wie sie alle heißen, schöpfen. […]

Das Bild ist für die grosse Halle im Landesmuseum bestimmt als Gegenstück zum Rückzug von Marignano, wird also so wenig wie jener zur richtigen Geltung kommen, seiner innersten Bestimmung, ein erhebendes Symbol der schweizerischen Geschichte zu sein, nicht nachleben können, sondern zu einer dekorativen Füllung, wie jede andere beliebige Architekturmalerei, degradiert sein. Und warum das? Weil die frühere Direktion des Landesmuseums aus der vom Architekten geplanten Ruhmeshalle eine mit antiquarischem Trödelkram vollgepfropfte Waffenhalle gemacht hat. Die Halle ist einer der imposantesten und grössten Räume in der Schweiz und war vom Architekten G. Gull auch zu Repräsentationszwecken bestimmt. Der Raum sollte als Raum auf den Besucher wirken; die ganze Mittelflucht sollte frei bleiben und nur einzelne wirkliche Symbole unserer geschichtlichen Vergangenheit, wie das Juliusschwert, die Waffen Zwinglis u. a. sollten in eindrucksvoller Weise hier zur Schau gestellt sein. Und diese ehrwürdige, fast andächtige Stimmung sollte von den beiden Wandbildern Hodlers aufgenommen und verstärkt zurückgestrahlt werden. So war hier im Landesmuseum eine Art Nationaldenkmal geplant, das seine Wirkung sicherlich nicht verfehlt hätte. Statt dessen wurde die räumliche Wirkung der Halle und die Wirkung der Bilder auf die raffinierteste Weise vereitelt. Große Zelte sind aufgespannt, aus denen die hundert ausgestopften Panzer stumpfsinnig herausglotzen, Kanonen sind dekorativ aufgestellt, die schönen Eichenseitenwände, die zur Aufnahme einzelner hervorragender Waffen bestimmt waren, sind mit eingerahmten Fahnen gepflastert und die ganze Halle mit aufgehängten Fahnen ohne jede geschichtliche Bedeutung vollgehängt, so daß man keine zehn Schritte weit die Hodlerschen Fresken sehen kann […]. […] [Der Museumsdirektor] Dr. Angst wollte den Architekten für dessen Eintreten für den von ihm verabscheuten Hodler bestrafen. Hodler sollte um seine Wirkung gebracht werden, als er sich einmal trotz aller Widerstände den Eingang in die Halle erkämpft hatte; dem Architekten aber wurde seine ganze Absicht zu schänden gemacht, indem man einen möglichst bunten und raumtötenden Jahrmarkt in die Halle einbaute. […]» (Bloesch, 1917)

«[Angsts] Wiederstand war aber weder unsachlich noch kunstfeindlich, sondern vor allem bedingt durch seine gewiss gerechtfertigte Auffassung, dass in einem Raume, der die Rüstungen, Waffen und Banner der Vorväter beherbergen und zur Geltung bringen soll, die eigens dafür bestellten Wandbilder weder durch grelle Farben oder erdrückende Monumentalität der Figuren dominieren, noch durch historische Ungenauigkeiten dem besucher ein falsches Bild vermitteln dürfen. […]

Angsts Urteil war zweifellos mitbestimmt von seiner jahrzehntelangen Betätigung als Erforscher und Entdecker vergangenen Kunstgutes; sein Auge war geschult an alten Tafelbildern, wie denn seine Zeit die Malerei überhaupt nur als Tafelmalerei auffasste, während ihr der Sinn für wirkliche Wandmalerei abging. Ihn wegen seiner schroffen Ablehnung Hodlers als kunstfeindlich oder auch nur als voreingenommenen Gegner aller modernen Kunst zu bezeichnen, geht aber schon im Hinblick auf seine Haltung anlässlich der Spaltung innerhalb der Zürcher Künstlergesellschaft 1895 und sein Verständnis für die Kunst Arnold Böcklins nicht an.» (Durrer, Lichtlen, 1948, S. 232–233)

«Den Wettbewerb um die Ausmalung des Waffensaals im Landesmuseum hatten Jury und E[idgenössische] K[unst]K[ommission] zugunsten von Hodlers Entwurf entschieden und mit dem Entscheid und der Ausstellung der Entwürfe 1897 den wichtigsten Kunststreit in der Schweiz ausgelöst. Auf der einen Seite standen mit der Jury und der EKK die Künstler und Architekten, auf der andern Seite die Kunsthistoriker und Historiker der Landesmuseumskommission. Während diese mit allen Kräften und auf allen Ebenen die Ausführung der Fresken zu verhindern suchten, hielt die EKK nicht nur an ihrem Entscheid fest, sondern sie suchte durch geschicktes Taktieren in Absprache mit dem Künstler die Ausführung durchzusetzen. Hodlers erster Entwurf musste den (Kunst-)Historikern als Verhöhnung der gelehrten Auffassung von Historienmalerei und ihrer Regeln oder als Ausdruck des blanken Unwissens über Kostüme und Waffen erscheinen.

Die Einzelheiten der Auseinandersetzung sind hinreichend bekannt. Doch wie ist das Ergebnis eines Verfahrens zu beurteilen, in dem die Entwürfe, die Abänderungen, die Begutachtungen, die Ratschläge stets im Hinblick auf den Sieg im Machtkampf ausgerichtet sein mussten? Wurde der Künstler zu einem 'kompromisslerischen' Werk getrieben, weil er unter allen Umständen das Werk ausführen wollte und die EKK zuletzt den Bundesrat von der Qualität des bereinigten sechsten und letzten grossformatigen Entwurfs zu überzeugen hatte? Wurde der Künstler damit fremdbestimmt, das heisst seiner selbst entfremdet, oder fühlte er sich von den Künstlerkollegen in der Jury und der EKK unterstützt, oder sogar gefördert, das heisst in der 'eigenen' künstlerische Entwicklung begünstigt? Immerhin schrieb Hodler: 'Bei der Ausführung musste ich dem Interesse des Architekten, dem der kleinere Massstab gewünscht war, folgen.' Fragen der Figuren- und Bildgrösse waren gerade keine künstlerische Nebensachen. Doch hatte Hodler nicht aufgegeben. In einem andern Fall – dem Plakatentwurf für die Zürcher Kunstgesellschaft von 1896 – war er nach den üblichen kleinlichen Einwänden des Vorstandes umstandslos vom Auftrag zurückgetreten.

Hodlers erster Entwurf für 'Marignano' konnte mit zwei 'offiziellen' Vorgaben rechnen. Die Eidgenossenschaft hatte an der Landesausstellung 1896 in Genf seinen 'Schwingerumzug II' gekauft, während die Stadt Genf den 'Zornigen krieger' erworben hatte. Damit hatte Hodler sowohl für den Kompositionsentwurf wie für die Detailstudie Beurteilungsindizien, die vielleicht für den Marignano-Entwurf wie für das Detail eine gewisse Wirkung hatten. Übereinstimmungen der Kompositionen sind aber bei einem Maler, dessen kompositionelle Erfindung auf wenige Matrizen eingeschränkt war, nicht zu überschätzen.

Vom ersten Entwurf bis zum ausgeführten Fresko lässt sich durchaus eine Klärung der Komposition und eine stärkere Berücksichtigung der Anforderungen der Grossdekoration beschreiben. Von Entwurf zu Entwurf fiel andererseits die Darstellung des Grausamen und Ekligen des krieges immer mehr aus. Charakteristisch ist, dass auch die seitlichen Lünetten, die gar nicht in den Streit einbezogen waren, von diesem Purifizierungsprozess erfasst wurden. Was ging verloren in den Bemühungen von Künstler und EKK, die zu einer feststellbaren Verbesserung führten? Mann könnte es die kritische Dimension des Historienbildes nennen, die Hodler nach Charles Gleyre im ersten Entwurf wie im Gegenstück 'Murten' erreicht hatte: kritische Reflexion der historischen Ereignisse. In der Brutalität des Entwurfts scheint die Erasmische Kritik an den Kriegsgreueln von Marignano aufgenommen zu sein, im ausgeführten Fresko verbinden sich die Reste des trockenen Blutes mit dem ungebeugten Trotz und dem malerischen Abzug. […]

Welchen waren die Folgen des Streites um die Fresken im Landesmuseum? EKK und Künstler konnten den Eindruck haben, einen Sieg verbuchen zu können. Doch lehrte der Streit die EKK und die Behörden nicht in erster Linie Vorsicht und Zurückhaltung? Zeigten nicht furchterregende Streitigkeiten über Lappalien wie Albert Weltis Briefmarke von 1907 oder Emil Cardinaux' Landesausstellungsplakat von 1914 die Bereitschaft zu öffentlicher Empörung über künstlerische Zumutungen? Bei der Ausmalung des Bundeshauses wurde in den Parlamentssälen mit äusserster Vorsicht operiert: ein touristisches Landschaftsstück für den Nationalrat, ein Kleinmeister-Landsgemeindebild für den Ständerat, beide meilenweit von jedem Geruch an Modernität oder künstlerischer und politischer Energie entfernt – Hodlers bedeutendstes Historienbild entstand um diese Zeit für die Universität von Jena. Zahlreiche lokale Streitigkeiten ink Zürich, Basel, Lausanne oder übergreifende wie in Schwyz 1936, aber auch die Gründung einer reaktionären 'Sezession' in Luzern 1906 lehrten die Behörden, Kommissionen und Künstler die Vorlieben und den restriktiven Kunstgeschmack der Öffentlichkeit. Um das Feld des durchschnittlichen Kunstgeschmacks wurden in den zwanziger und dreissiger Jahren unterschiedlich hohe Abwehrmauern gegen bolschewistische und faschistische Tendenzen hochgezogen.» (Bätschmann, 1998, S. 49–50)

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