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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

künstler: Werner Tübke

titel: Fünf Kontinente

jahr: 1958

adresse: Hotel Astoria, Grosses Restaurant, Willy-Brandt-Platz, Leipzig

+: Fünf Doppeltafeln ("antithetische Diptychen", innen), je 245x245 cm. Erstellt im Auftrag der HO-Hotelbetriebe Leipzig. Seit Schliessung des Hotels 1996 eingelagert

«Die Rezeption des mexikanischen Muralismus hatte […] in den vierziger Jahren begonnen, erfuhr jedoch 1950 einen Bruch, wobei man Diego Riveras zeitweilige Freundschaft mit Leo Trotzki zum Anlass der Ablehnung nahm. In der Tauwetter-Periode um 1956 konnte der Muralismus für kurze Zeit wieder aufgegriffen werden, bis er 1958 wegen seiner expressiven Bildsprache mit dem Formalismus-Verdikt belegt wurde.

Doch Tübke liess man beim 'Astoria'-Auftrag gewähren, um dem internationalen Messepublikum des Hotels ein Bild kultureller Aufgeschlossenheit zu vermitteln. Tübke selbst, für dessen eigene Stilvorstellungen der mexikanische Muralismus weit weniger von Bedeutung war als die Rückwendung zur malerischen Brillanz der alten Meister, griff die mexikanische Wandmalerei in keinem seiner nachfolgenden Werke nochmals auf.» (Thomas 2002, S. 195)

«Erstaunlicherweise sollte [Alfred] Kurella einem anderen Maler, der später einmal neben Sitte als der Repräsentant einer originellen DDR-Malerei gefeiert wird, hilfreich unter die Arme greifen. Gemeint ist Werner Tübke. Erstaunlich, weil bei einem Vergleich zwiwchen dem kubistizierenden Sitte und dem hyperrealistischen Tübke, der Hang zur Dekadenz im Sinne von Manieriertheit eindeutig auf Seiten von Tübke und nicht bei Sitte auszumachen ist – und zwar sowohl im Werk als auch in der Person. Auf den jungen Maler war Kurella aufmerksam geworden durch dessen 1958 vollendete, wandfüllende Gemälde im Leipziger Hotel 'Astoria'. […] Bei allem Detailrealismus wirken die Figuren durch das starke Gedränge der Szenerie wie im Bildraum zusammengepresst und dadurch verfremdet. Im Malstil und der Komposition ergeben sich ebenso Parallelen zur altdeutschen Malerei eines Albrecht Altdorfer, Albrecht Dürer, Hans Baldung Grien und Jörg Ratgeb, wie auch zu dem berühmtesten Wandmaler des 20. Jahrhunderts: zu Diego Rivera. Tübkes provokanter Rückzug aus der Moderne muss Kurella an den Astoria-Arbeiten ebenso gefallen haben wie die virtuose Detailgenauigkeit in der Malerei und die eindeutig politische Themenstellung der Bildmotive. Beim Anblick dieser Wandbilder wird sich Kurella sicher an die Wandgemälde seines alten Freundes Diego Rivera erinnert haben, den er 1927 in Moskau kennengelernt hatte. Denn für die Gestaltung der drangvollen Fülle der Figuren, den antithetischen Bildaufbau zur Artikulierung der Klassengegensätze und die Fabulierfreude konnte sich Tübke bei den Fresken des Mexikaners manche Anregung holen. Wie Rivera für seine Wandbilder in Mexiko die Malerei der italienischen Frührenaissance studierte, um einerseits den Kubismus seiner Pariser Zeit überwinden und anderseits eine narrative, volkstümliche und doch moderne Bildsprache finden zu können, so nimmt sich Tübke neben dem italienischen Manierismus die spätgotischen Manieristen der altdeutschen Malerei zum Vorbild für die Entwicklung eines modernen Realismus.

Kurz bevor Tübke den Auftrag für die fünf Diptychen im Interhotel 'Astoria' erhielt, war 1957 im Dresdener Verlag der Kunst die Monographie von hans Secker über Diego Rivera erschienen. Hier konnte der junge Leipziger Maler für seinen ersten Grossauftrag nicht nur die Kompositionsmethoden des erfahrenen mexikanischen Wandmalers studieren und eine überraschende Bestätigung für seine eigenen stilistischen Anleihen bei der Kunst der Frührenaissance finden. Er konnte auch etwas über Kurellas Engagement für Rivera in der Sowjetunion erfahren, wo der Mexikaner auf Betreiben Kurellas nicht nur Mitglied der OKTJABR-Gruppe geworden war, sondern sich auch mehrmals öffentlich gegen den kleinlichen Genrerealismus der Assoziation der Künstler des Revolutionären Russland gewandt hat. Die Aufträge für Wandgemälde in Moskau, mit denen Rivera auf Kurellas Initiative hin vom Volkskommissariat für Volksbildung beauftragt worden ist, haben sich dann allerdings zerschlagen, so dass von seinem mehrmonatigen Aufenthalt in der Sowjetunion dort keine materiellen Spuren hinterblieben sind. Wie Kurella sich in Moskau zum Mentor Riveras machte, so nimmt er nun in Leipzig die Rolle des Mentors für Werner Tübke ein.» (Gassner, 1996, S. 670–671)