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dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

verfasserin/verfasser: Clement Greenberg

titel: Die gegenwärtigen Aussichten

+: als "The Present Prospects of American Painting and Sculpture" erstmals erschienen in: Horizon, Bd. 16, Nr. 93—94, Oktober 1947, S. 20—29

«Die Kunst eines Landes kann nicht ausschliesslich von sprunghaften Emotionen, Hochgefühl und der unendlichen Differenzierung der Sensibilität leben und sich erhalten. Eine substantielle Kunst braucht Ausgewogenheit und genügend Überlegung, um zur Übereinstimmung mit der forgeschrittensten der in ihrer Zeit bekannten Weltanschauungen zu gelangen. Der moderne Mensch hat in der Theorie die grossen Fragen des öffentlichen und privaten Lebens gelöst, und die Tatsache, dass er sie in der Praxis nicht gelöst hat und dass die reale Lage heute problematischer ist als je zuvor, sollte der Entwicklung einer abgeklärten, weiten, ausgeglichenen, apollinischen Kunst in diesem Lande nicht entgegenstehen, in der die Leidenschaft nicht die Lücken füllt, die eine fehlende oder fehlerhafte Anwendung der Theorie gelassen hat, sondern dort einsetzt, wo die fortgeschrittenste Theorie endet, und in der alles von einer intensiven Unabhängigkeit geprägt ist. […]

Ausgeglichenheit, Weite, Präzision, Aufklärung, Verachtung der Natur in all ihren Besonderheiten — das ist die grosse, nicht vorhandene Kunst unserer Zeit.

Die Kultur steht in Amerika vor der Aufgabe, ein Milieu zu erschaffen, das eine solche Kunst — und Literatur — hervorbringen wird und uns (endlich!) von der Obsession für extreme Situationen und Geisteszustände befreit. Wir haben genug vom wilden Künstler — der inzwischen zu einem der gängigen, dem Selbstschutz dienenden Mythen unserer Gesellschaft geworden ist: Wilde Kunst ist zwangsläufig irrelevant. Wir bedürfen einer viel grösseren Infusion von Bewusstsein in das, was wir das Schöpferische nennen.»