www.mural.ch: themen

dieser beitrag wurde verfasst in: deutsch (ger/deu/de)

Entwicklungen hin zur Gegenwart: Mexiko, Streetart, Graffiti

In Mexiko hielten sich die revolutionären Topoi (indianische Antike, nationale Helden, Fortschritt durch Technik) angesichts der politischen Kontinuität mindestens bis 2000. Beispiellos ist die Verbreitung. Wandgemälde wurden in den acht Jahrzehnten nachrevolutionärer Regierungskultur in jedem Winkel des Landes ausgeführt. Viele Schulen und fast alle Gebäude der öffentlichen Administrationen sind mit Werken ausgestattet.

Während die repräsentative Wandbildkunst vorallem in den Ländern der westlichen Hemisphäre in den 1960er-Jahren rasch ihre frühere Bedeutung einbüsste, stiegen Graffiti und Streetart zu einer stadtbildprägenden Massenkulturerscheinung auf. Eigentliche "writer" bezogen sich dabei eher auf eine Tradition der Übermittlung von codierten Botschaften, wie diejenige der "monikers" auf amerikanischen Güterzügen oder der "placas" respektive "plaqueasos" in Los Angeles, während Streetartisten, die oft mit akademischem Hintergrund antraten, sich in manchen Fällen als Erben des Muralismus verstanden. In der Ära des "Postgraffiti" (seit den 1990er-Jahren) lässt sich kaum mehr eine klare Trennlinie zwischen den zwei Gestaltungsansätzen ziehen (vgl. Ganz, 2004/09, Lemoine/Terral, 2005), manche Writer sprechen gar vom Untergang des Graffiti (vgl. Lek/Sowat, 2012).


Abbildung Guillermo Ceniceros, Del códice al mural, metro Tacubaya, México D.F., 1987 Abbildung Vladimir Victorovich Kibalchich, Revolución y elementos, Biblioteca Miguel Lerdo de Tejada, México D.F., 1974—82 Abbildung José De Guimarães, Civilización y cultura, metro Chabacano, México D.F., 1996 Mehr an internationale Kunstentwicklungen angelehnte Bildlösungen finden sich vorallem an den Wänden der U-Bahn von Mexiko Stadt, wo auch Aufträge an nicht-mexikanische Künstler vergeben wurden.

Abbildung David Siqueiros, Muerte al invasor, 1941—42, Chillán, Chile Abbildung Roger Somville mit Marc Bolly, Roger Dewint, Paul Gobert, Peter Schuppisser, Paul Timper, Anne Van der Loo, Notre temps, 1973—76, Metrostation Hankar, Brüssel David Siqueiros sprengte in seinem Werk bereits ab den 1930er-Jahren die traditionelle Bildform auf und griff sowohl plastisch in den Raum als über die Bildränder hinaus. Seine dynamisiert-verzerrten Figurationen zeigen Ähnlichkeiten mit Werken der Streetart und des Graffiti. Beide Aspekte — die Entgrenzung des Raums und die Anlehnung an Graffiti — charakterisieren auch das Werk Roger Somvilles in der Brüsseler Metro. Somville hatte Siqueiros bis zu seinem Tod 1973 mehrfach getroffen und nahm sehr explizit auf sein Werk Bezug.

Abbildung Volkstümliche Graffiti, Col. Pedregal de Santo Domingo, Del. Coyoacán, México D.F., 2004 Die Ikonographie des mexikanischen Muralismus lebt auch in der mexikanischen Streetart weiter. Eine Form der (legalen) Bemalung haben Gruppen von Jugendlichen im Pedregal de Santo Domingo in Coyoacán im Süden von Mexico City, nahe der Universität, gefunden. Im Auftrag von Hausbesitzern oder mit deren Einverständnis bemalen Sie deren weissgetünchte Hausmauern mit unfarbigen Darstellungen. Die Farbe ist wasserlöslich, das Design verschwindet mit der Zeit wieder.

Abbildung Judy Baca und Mitarbeiter, The Great Wall of Los Angeles (History of California), Tujunga Wash, San Fernando Valley, Los Angeles, CA, USA, 1976—84 Judy Baca besuchte 1977 das Taller Siqueiros und schuf in Los Angeles mit dreissig weiteren Künstlern und 400 Mitarbeitern das grösste kollaborative Wandgemälde der Welt, das einige Merkmale des mexikanischen Muralismus und der US-amerikanischen Depression art in die Epoche der Streetart trug.

Abbildung Ericailcane und Hitnes, col. Tepito, del. Cuauhtémoc, México D.F., 2012 Abbildung Ericailcane, Hitnes und Dehar, Cholula, Mexico, 2012 Europäische Streetart der 2010er-Jahre in Mexico: Ericailcane aus Bologna in Tepito und Cholula.

Abbildung Francesco del Casino, Orgosolo, Sardinien Abbildung Francesco del Casino, Battaglia di Montaperti, Taverne d'Arbia, Provinz Siena, Italien Der Übervater der italienischen Streetart heisst Francesco del Casino, der sich seine breite Bekanntheit in den Jahren 1975–85 mit Bemalungen in und um Orgosolo, Provinz Nuoro in Sardinien erarbeitete. Auch kollaborative Werke wie diejenigen in Taverne d'Arbia gehören dazu. Del Casinos witzige, aber auch epigonale Figurenwelt bezieht sich auf Pablo Picasso und Renato Guttuso.