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Ausflüge zu Hochburgen der Wandmalerei und Sgraffitokunst im Albulatal, Engadin und Bergell

von Alex Winiger, November 2017

Italienische Sgraffitisten brachten ihre Kunst seit dem 15. Jahrhundert über die alpinen Handelsrouten quer durch das Engadin, von West nach Ost, bis ins Tirol und von dort weit nach Osteuropa. Seine grösste Entfaltung erlebte das Fassadensgraffito in der Zeit nach dem Dreissigjährigen Krieg, den allmählichen Niedergang im 19. Jahrhundert. Im Zeichen eines Patriotismus der 1930er-Jahre, der die Alpen und seine Bewohner als Identitätsstifter wiederentdeckte, wurde die Wiederbelebung des traditionellen Sgraffito in Form von Restaurierungen und Rekonstruktionen von der schweizerischen Eidgenossenschaft grosszügig gefördert, namentlich im Dorf Guarda im Unterengadin.

Im Zuge von Hausabbrüchen verschwanden allerdings auch fortlaufend alte Sgraffiti. Ab 1950 und besonders seit 1970 entstanden zahlreiche Sgraffiti an modernen Wohnhäusern. Deren Aussehen wurde dadurch und mit der Verwendung von Trichterfenstern und tiefgezogenen Dächern demjenigen der alten Bauernhäuser angeglichen. Manche dieser Dekorationen sind schematisch und trivial. Es gibt aber auch herausragende Beispiele, wie die weiter unten vorgestellte Dekoration einer ganzen Neubausiedlung in Bever durch Constant Könz.

Ausserordentlich schöne Exemplare mittelalterlicher Kirchenausmalungen haben sich in den grössenteils reformierten Tälern erhalten. Während der Reformation überstrichen, konnten sie Jahrhunderte überdauern und wurden im 20. Jahrhunderts wieder ans Tageslicht geholt.

Die dekorative Bemalung von Fassaden gelangte im 18. Jahrhundert vom Tirol her ins Münstertal und Engadin und ist im östlichen Zipfel der Region am stärksten erhalten. Seit 1850 zog mit dem Tourismus auch die moderne Wandmalerei ins Engadin ein, vorerst vor allem im Rahmen der oftmals üppigen Ausstattungen der neuen Hotelpaläste. Für öffentliche Gebäude (Gemeindehäuser, Schulen, Brunnen, Bäder, Kraftwerke) wurden, ähnlich wie in der übrigen Schweiz, zunehmend Aufträge vergeben.

Die Wandbildproduktion, insbesondere das in der Region omnipräsente Sgraffito, war im 20. Jahrhundert dominiert von der Familie Könz aus Zuoz respektive Guarda, und der Familie Pedretti aus Samedan. Dazu kommen einige um 1900 entstandene Werke der beiden Nicolaus Hartmann aus St. Moritz. Augusto Giacometti aus Stampa, Spross einer weiteren bekannten Künstlerfamilie der Region, hinterliess sein wandkünstlerisches Oeuvre jedoch (mit einzelnen Ausnahmen) nicht hier, sondern in Zürich. Giovanni Segantinis Monumentalwerk war für die Weltausstellung 1900 in Paris konzipiert und befindet sich in St. Moritz. Sein Sohn Gottardo schuf ein Deckengemälde für ein St. Moritzer Hotel.

Ich stelle hier einige Orte mit einer besonderen Häufung von Werken vor, die mir herausragend erscheinen. Manche – wie Ardez und Guarda oder wie Samedan, Bever und Zuoz – liegen so nahe zusammen, dass sie in einem Tagesausflug besichtigt werden können. Die kleinen Fusstouren sind je mit einer Tourenkarte versehen, denen Gehzeiten, Steigungen etc. entnommen werden können. Für die Reise von einer Talschaft zur nächsten eignen sich Bahn und Bus oder, für diejenigen, die die beträchtlichen Höhendifferenzen nicht scheuen, das Fahrrad.

Löbbia – Vicosoprano

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Kraftwerk Löbbia

Ganz entfernt erinnert Constant Könz' ursprünglich für eine Arbeiterbaracke geschaffene Bild an Rockwell Kents 'Man’s Liberation Through Electricity'. Während Könz' eigentlich für die Arbeiter geschaffene Bild den Nutzen der Elektrizität (für Zürich) in den Vordergrund stellt, ist dasjenige, das der damals in Zürich lebende Mario Comensoli für den Maschinenraum schuf, den Arbeitern gewidmet, die das Kraftwerk erbauten. Könz bewegte sich hier in einer ganz modernistischen Bildsprache, Comensoli in einem eher konservativen Realismus.

Casa pretoria, Haus Nr. 79, Dorfplatz, Vicosoprano

Dank seinem Vater Iachen Könz, der das mehrhundertjährige Haus umbaute, konnte Constant Könz hier eine eigenwillige Arbeit realisieren, die in ihrer Skurrilität etwas an Varlin erinnert. Ob die Auseinandersetzung mit dem Thema Hexenprozesse in dieser Weise adäquat sei, darüber wird man sich streiten. Sehenswert sind die zwei Wandbilder allemal.

Die Sgraffiti der Fassade des Gebäudes restaurierte Constant Könz' jüngster Bruder Steivan im Alter von 20 Jahren.

Stuls – Latsch – Bergün

Bergün mit den dazugehörenden Weilern Stuls und Latsch ist ein Hotspot sowohl des Sgraffito als auch der Kirchenmalerei. Bergün ist der letzte wichtige Halt der Albulalinie vor der Durchfahrt ins Engadin und damit sehr gut erreichbar. Am ehesten bietet sich deshalb eine kleine Tagestour zu Fuss oder mit dem Bus von Bergün nach Latsch und Stuls an. Stuls kann aber auch von Filisur her erwandert werden.

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Pfarrkirche Stuls

Die Innenausmalung der Kirche ist ein berückendes Zusammenspiel der Maiestas Domini und verschiedener biblischer Szenen, die eine völlig abgerückte Realität erzeugen. An der Fassade existiert ausserdem ein Drachenkampf, im übrigen Weiler zwei bemerkenswerte Sgraffitofassaden aus dem 18. Jahrhundert (Häuser Nr. 6 und 21) und eine qualitätvolle Neuschöpfung von 1961 (Haus Nr. 23).

Fassadenbemalung, Latsch

Im hoch über Bergün thronenden Weiler Latsch mit seinem geschlossenen Dorfkern gibt es neben einigen schönen Sgraffiti auch eine der hier seltenen gemalten Fassadendekorationen zu sehen.

Haus 51, Unterdorf, Bergün

Herausragende Synthese traditioneller Elemente mit eigenständigen Erfindungen. Ein fabulierendes Bilderbuch, überzeugend auf die Architektur bezogen.

Haus 113 (Ortsmuseum), Hauptstrasse, Bergün

Gut sichtbar ist der Qualitätsunterschied zwischen den alten, restaurierten Sgraffiti von 1600 und denjenigen des 1930 neu errichteten Gebäudeteils.

Evangelische Pfarrkirche, Bergün

Wahrscheinlich ist Bergün der einzige Ort in der Schweiz, wo die Evangelische Kirche diejenige der Katholiken punkto Prachtentfaltung weit hinter sich lässt. Die enorm schöne und üppige Ausmalung stammt vom Ende des 15. Jahrhunderts und war mehr als 400 Jahre übermalt. Christian Jakob Schmidt, Autor der Dekorationen des Zürcher Stadthauses, des Landesmuseums in Zürich und des Rathauses in Stein am Rhein vollbrachte mit der Freilegung und Ergänzung der Bemalungen ein Meisterwerk.

Samedan – Bever – Zuoz

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Schulhaus, Puoz 2, Samedan

In Samedan existieren zahlreiche Rekonstruktionen und Neuschöpfungen des 20. Jahrhunderts. Herausragend ist hier jedoch die Arbeit am Schulhaus von Giuliano Pedretti, der andernorts seine fundierte Kenntnis des tradierten Sgraffito bewies, an dieser flachen, unstrukturierten, rechteckigen Wand jedoch einen vollkommen anderen bildnerischen Ansatz verfolgte.

Chesa Darlux, Calderas, Buera und weitere, Bever

Gleich hinter dem Bahnhof Bever, bei der Anfahrt gut vom Zug aus sichtbar, befindet sich eine formal traditionalistisch gebaute Siedlung von 1972, die Constant Könz mit eigenwilligen, mehr postmodern als traditionell wirkenden Sgraffiti versehen hat.

Salishaus, Fuschigna 2, Bever

Der Hotelarchitekt Nicolaus Hartmann der Ältere hat hier eine ansprechende Sgraffitodekoration der Belle Epoque geschaffen.

Neben den oben beschriebenen Werken existieren in Bever überzeugende Rekonstruktionen alter Sgraffiti von Iachen Könz, Constant Könz und Giuliano Pedretti.


Zuoz ist reich an Fassadendekorationen, von denen wiederum einige von Mitgliedern der Familie Könz stammen. Iachen Könz betrieb hier in den 1920er- und -30er-Jahren sein Architekturbüro, Sohn Constant lebt noch hier. Im Hotel Castell gibt es ausserdem die Möglichkeit, neue Kunst (unter anderem an den Wänden der Treppenhäuser) in einen direkten Vergleich mit früherer Gebäudebemalung zu stellen.

Rote Bar, Hotel Castell, Via Castell 300

Für das Studium der Flachschnitzereien und Sgraffiti aus dem Büro Nicolaus Hartmann des Jüngeren, am Vorabend des ersten Weltkriegs entstanden, lohnt es sich auf den Hügel zu steigen und sich dort eine Erfrischung zu genehmigen. Die 1998 eingebaute Bar von Gabrielle Hächler und Pipilotti Rist ist ohnehin sehenswert.

Evangelischer Kirchgemeindesaal, Via d‘Aguêl 201, Zuoz

Von Constant Könz stammt dieses wenig nach seiner Arbeit in Vicosoprano realistierte grosse Innenwandbild.

Haus Nr. 425, Surarivas, Zuoz

Diese qualitätvolle Dekoration an einem Neubau der 1960er-Jahre zeigt einen sehr freien Umgang mit der Tradition des Sgraffito, jedoch ohne modernistischen Anspruch.

Ardez – Guarda

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Die Fassaden von Ardez sind stark dominiert von der Arbeit der Familie Könz, wir nähern uns dem Epizentrum der könz'schen Aktivität. Es gibt hier zahlreiche gelungene Restaurierungen und Neuschöpfungen zu sehen. Das Relikt eines Seeungeheuers aus dem 16. Jahrhundert (auf Haus Nr. 16) stand wohl den Delphinfiguren Pate, die die Brüder Steivan und Constant Könz wiederholt verwendeten.

Das Dorf Guarda ist ein Restaurierungsprojekt der Kriegsjahre (1939–45). Die Mehrzahl der Werke greifen Überreste aus dem 17. und 18. Jahrhundert auf. Im 19. Jahrhundert verarmte Guarda und besass nach 1900 kaum mehr sichtbare Sgraffiti oder Bemalungen. Moderne Fassadengestaltungen kommen vereinzelt an Neubauten ausserhalb des Dorfkerns vor.

Pastizaria Giacometti, Ardez

An dieser bemalten Fassade verbanden der figurative Steivan und der ornamental-abstrakte Constant Könz ihre Talente zu einem Werk, das aus dem 17. Jahrhundert stammen könnte, jedoch wohl ziemlich frei erfunden ist.

Haus 100, Ardez

Grossartige bemalte Fassade, zwischen 1600 und dem 19. Jahrhundert entstanden. Zwischen Adam und Eva und vielen anderen Darstellungen zieht auch das französische Heer durch das Bild.

Haus 162, Ardez

An diesem Haus aus dem 18. Jahrhundert zog Steivan Könz so richtig vom Leder. Der Meisterzeichner integrierte während der Ausführung gern spontan Erlebnisse mit den Hausherren, deren Erzählungen oder Gegebenheiten seiner Arbeit. Hier gelangten neben vielen Tier- und Pflanzendarstellungen auch eine Kaffeekanne und ein Selbstportrait mit Weinglas zur Darstellung.

[Weitere Stationen folgen…]